Ohne sie wäre das Leben nicht das, was es ist: Die Zunge hilft beim Essen, Sprechen und sogar bei der Immunabwehr. Aber das ist längst nicht alles: Wer genau hinsieht, dem verrät sie so einiges über seine Gesundheit.
Als die Medizin noch nicht über Hightech-Apparaturen verfügte, um Diagnosen zu stellen, schaute so mancher Arzt auch auf die Zunge seiner Patienten und Patientinnen. Er wusste, dass dicke Beläge auf einen Infekt hindeuten können, eine himbeerrote Zunge mit Scharlach einhergehen und tiefrote Farbtöne mit einer Leberzirrhose in Verbindung stehen können. Heute spielt die Zunge eher in der Zahnmedizin eine Rolle: Mundgeruch entsteht bei über 90 Prozent der Fälle im Mund. Die Bakterien mit einem Schaber zu entfernen, empfehlen Zahnärzte daher schon seit langem. In Indien hat sich die Kunst der Zungendiagnostik dagegen noch viel weiter ausdifferenziert – hier ist sie ein wichtiges Standbein der ayurvedischen Medizin.
Die Zunge im Ayurveda
Ayurveda ist Lebensphilosophie, Gesundheitsvorsorge und Medizin in einem. Schätzungen zufolge ist das indische „Wissen vom Leben“, so die deutsche Übersetzung für Ayurveda, mindestens 5.000 Jahre alt. Ayurvedische Ärzte verstehen Krankheit als Ungleichgewicht von Körper, Geist und Seele. Sie untersuchen den ganzen Körper, den Urin, den Puls und eben auch die Zunge, um herauszufinden, warum die Balance verloren ging.
Die Zunge spielt bei der Diagnostik eine große Rolle, weil sie laut ayurvedischen Therapeuten und Therapeutinnen den ganzen Körper repräsentiert. Die Zunge selbst steht stellvertretend für das Blut und das Gewebe des Patienten, die Beläge geben Auskunft über die Schleimhäute. An der Zungenspitze lesen Ayurveda-Experten und -Expertinnen den Zustand von Herz und Lunge ab, die Mitte wiederum nutzen sie dafür, Magen, Milz und Leber zu untersuchen, und am hinteren Teil erfassen sie Darm und Nieren. Um die Zunge richtig zu interpretieren, braucht man viel Erfahrung. Aber die Grundlagen kann jeder lernen – auch wenn nur der Profi die Diagnose stellen kann.
Zungendiagnose für Zuhause
Esse und trinke keine Lebensmittel, die deine Zunge verfärben könnten, bevor du in den Spiegel schaust. Kaffee, Tee, Beeren oder bunte Süßwaren müssen warten. Nun sieh genau hin: Ist deine Zunge leicht rosa und mit einem feinen, transparenten Belag bedeckt? Sind die Geschmacksknospen flach, ohne Risse, Erhebungen und Flecken? So sieht eine gesunde Zunge in der Regel aus. Ist sie zu trocken, zu nass, pelzig oder riecht sie muffig, könnte sie auf ein Ungleichgewicht hindeuten.
Bemerkst du Unregelmäßigkeiten an den vorderen Seiten? Dann könnten die Lungen betroffen sein. Veränderungen an den hinteren Seiten könnten dagegen auf ein Problem an den Nieren hinweisen, in der Zungenmitte bringt sie der Ayurveda-Profi wiederum mit Darmbeschwerden in Verbindung. Natürlich gibt es viele weitere Auffälligkeiten, die man interpretieren könnte. Denke beim Blick in den Spiegel immer daran: Die Zunge richtig zu deuten, braucht Zeit, und für eine Diagnose ist eine umfassendere Untersuchung notwendig. Bemerkst du etwas, das dich beunruhigt, solltest du einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen.
Zungenbeläge hängen auch mit der Ernährung zusammen. Dicke Beläge könnten darauf hinweisen, dass sich dein Magen mit der Verdauung schwer tut. Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du schwere, fettige und verarbeitete Kost reduzierst? Probiere es aus oder fragen deinen Arzt.
Die Zungendiagnostik gehört zum reichen Erfahrungsschatz, den indische Behandler im Lauf der Jahrtausende gesammelt haben. Mittlerweile gibt es immer mehr Ayurveda-Zentren in Deutschland, die dieses Wissen nutzbar machen. Aber auch in Indien findet es bei Ayurveda-Kuren nach wie vor Anwendung.
Was haben Zunge und Puls gemeinsam?
Übrigens nutzen nicht alle Ayurvedazentren die Zungendiagnose, um die Konstitution eines Menschen zu erfassen. Manche stützen sich stark auf den Puls, der ebenfalls Auskunft darüber gibt, ob Körper, Geist und Seele in Balance sind. Stärke, Gleichmäßigkeit und Frequenz des Pulses verraten dem geschulten Therapeuten oder der Therapeutin einiges über den Zustand der inneren Organe. Zusammen mit anderen Untersuchungsmethoden gewinnt der Profi so einen Einblick in den Gesundheitszustand seines Patienten.